Historischer Überblick
Grundriss der Haager Geschichte
Von Rudolf Münch
Haag an der Kreuzung zweier Römerstrassen im 10. Jahrhundert entstanden, wird um das Jahr 980 als Sitz eines freien Herrengeschlechtes „de Haga“ erstmals schriftlich genannt. Die Haager Burg dürfte in der Zeit 926 - 936 entstanden sein, zu dessen Füssen sich eine kleine Siedlung entwickelte. Herrschaftlicher Mittelpunkt war zunächst Kirchdorf, wo das machtbewusste Geschlecht der „Gurren“ eine Herrschaft aufbaute und dazu im Haager Land über zahlreiche Ministeriale und Ritter gebot. Um 1200 verlegten die Gurren ihren Stammsitz nach Haag, bauten die dortige Burg zum Mittelpunkt der Verwaltung aus, legten einen Lehnhof und einen Marktplatz an, strafften die militärische Struktur, stellten einen eigenen Richter an und liessen Kirchdorf nur als kulturelles Zentrum zurück, wo sie eine neue Pfarrkirche (romanisch) errichten liessen. Damit schufen die Gurren de facto die Grafschaft Haag, wie sie Kaiser Friedrich II ausdrücklich nennt, de jure anerkannt und mit der hohen Gerichtsbarkeit als Reichslehen bestätigt.
Die Fraunberger führten den Aufbau der Freien Grafschaft fort, mit hoher Durchsetzungskraft und rigoroser Gewalt. Unter ihnen wurde die Grafschaft Haag zu einem militärisch geprägten Staatswesen, mit Eigenwillen und Selbstbewustsein, eigenen Maßen und Gewichten, eigenen Verwaltungsrechten und stets präsenter Wehrfähigkeit. Der erste Fraunberger Sigfrid war ein streitbarer Ritter. Er stand im Heer Kaiser Friedrich II bei den Italienzügen und ging 1247, nach seinem Amtsantritt, sofort zur Bekämpfung seiner äusseren Gegner über. Die Haager stürmten 1247 die gut befestigte Stadt Wasserburg (damals: 'Wazzerburg') nach 17 Wochen Belagerung. Ein Jahr darauf brachen sie die Burgen der Grafen von Andechs-Meranien und der von Falkenstein.
Unter Sigfrid III griffen die Haager 1280 wegen einiger Hoheitsrechte das Erzbistum Salzburg an, führten grosse Gewalttätigkeiten durch und nahmen sich die salzburgische Hofmark Pürten als Pfand. Unter solchem Druck schloss das Bistum Regensburg 1304 mit den Haagern einen Vertrag, wonach die regensburgische Herrschaft Hohenburg am Inn freiwillig an die Haager übertragen wurde. Nun hatten die Haager freie Hand, das Bistum Freising anzugreifen. Hier ging es vor allem um die Gerichts- und Verwaltungsrechte von Freisinger Untertanen an der Westgrenze der Grafschaft. Die Haager eroberten 1317 die freisingische Festung Burgrain, drangen bis nach Freising vor, stürmten die Burg Kranzberg, masakrierten die Gefangenen, plünderten des Bischofs Pferde und verursachten einen Sachschaden von 6000 Pfund Silber.
Der nächste Haager Herrscher, Sigfrid IV verbrachte die meiste Zeit im Sattel seines Streitrosses. Er setzte 1318 den Krieg gegen Freising fort. 1322 kämpften die Haager in der Schlacht bei Mühldorf so mutig, dass ihnen Kaiser Ludwig das Marktrecht verlieh. Später verteidigte Konrad von Fraunberg die Burg Tirol bei Meran so erfolgreich gegen die Luxemburger, dass er zum Hofmeister von Tirol ernannt wurde. Durch seine Liebesbeziehungen zur Tiroler Regentin Maultasch erhielt er zahlreiche Burgen und Weingüter in Tirol. Das fatale an der Sache war, dass die Maultasch die Ehefrau des bayerischen Herzogs war. Als die Affäre bekannt wurde, kam es 1362 zum ersten Krieg der Bayern gegen die Grafschaft Haag. Der Herzog machte die Burg Fraunberg bei Albaching dem Erdboden gleich. Nach diesem Überraschungserfolg endete die Fehde vor der Burg Hohenburg mit einem Remis.
In der Folge verstärkten die Haager ihre militärischen Anstrengungen. Sie unterstellten ihre Schutztruppe dem Deutschen Reich und kämpften 1396-1399 auf dem Balkan tapfer für das christliche Abendland gegen die Türken, mit reicher Beute aber auch mit hohen menschlichen Verlusten. Im Ochsenkrieg 1421 eroberte Georg III von Fraunberg zahlreiche Dörfer in Niederbayern, darunter den Markt Dorfen und die Edelsitze Eberspeck und Schrenk von Notzing, wofür er exkommuniziert wurde. Zur Wiederaufnahme in die Kirche beschenkte er das von ihm gestiftete Kloster Ramsau und förderte das Kloster Gars, wo er auch begraben liegt. Nach einem Streit mit den Törringern stürmte Georg III von Haag 1435 die Felsenburg Stein an der Traun. 1469 nahm Wolfgang I von Haag die salzburgische Festung Tettelheim ein. In dieser Manier geht es durch die gesamte Haager Geschichte. Statistisch gesehen waren die Haager alle zwölf Jahre in einen Krieg verwickelt. Ihr Motto lautete: „Wer im Krieg will Unglück han, der fang es mit den Haagern an“.
Für die Haager war diese militärische Präsenz überlebenswichtig für ihre „Haager Freiheit“. Jeder dritte männliche Untertan war ein Freieigner oder Lehensmann, also ein Wehrbauer. So hatte das Haager Fähnlein eine Stärke von etwa 600 Mann. Besonders an der West- und Nordgrenze häuften sich die Wehrbauern. Am Inn entlang gab es weniger Wehrbauern, weil hier die Grenze ohnehin durch den Fluss gesichert war. Hauptsächlich sind Wehrbauern in den Orten Moosham, Diezmanning, Dachberg, Gatterberg, Burdberg, Hundsruck, Innach Brandstätt, Haslach, Eisenberg, Kirchdorf, Kronberg, Tiefenstätt, Ödenberg, Thal, Mühlberg, Nussbaum, Eppenhöning, Puch, Berging, Aign, Reisern, Oberndorf, Winden und in den vielen Einöden zu finden.
Waffentechnisch hielten die Haager Grafen ihre Truppe immer auf dem neuesten Stand. Unter Graf Ladislaus verfügte das Haager Fähnlein über 600 Langspiesse, 63 Hellebarden, 100 Faustbüchsen (Pistolen), 1325 Feuerbüchsen (Gewehre), 10 leichte und 29 schwere Geschütze, sowie mehr als 2000 weitere Kriegs-Utensilien. Dieses Waffen-Arsenal war im Zeughaus untergebracht, das zur Tarnung „Zehentstadel“ genannt wurde. Im Jahre 1664 führten die Haager anstatt dem Wehrbauern-Heer eine Freiwilligen-Miliz ein, die auf 507 Mann Mindeststärke + 78 Unteroffiziere + 15 Offiziere festgelegt wurde. 1869 wurde das eigene Haager Militär aufgelöst.
Trotz dieser militärischen Prägung war die Grafschaft Haag ein Rechtsstaat, der die Interessen auch des kleinen Mannes wahrte. In Artikel 8 des eigenen Haager Rechtes heisst es „jedem soll sein Recht gewährt werden, dem Armen als dem Reichen gleich“ (1556). Richter und Gerichtsbeamte urteilten unabhängig von der Herrschaft und unterlagen einem strengen Haager Verwaltungsrecht. Inländer, das heisst Bewohner der Grafschaft Haag hatten vor Gericht den Vorteil des 'Wandels' . Dieses war die Umwandlung der Gefängnis- oder Todesstrafen in Geldstrafen. Dazu führte das Haager Hochgericht ein Buch, in dem alle Vergehen und Verbrechen menüartig und mit der jeweiligen Geldbuße aufgelistet waren (Bußgeld-Katalog). Zeigte sich der Übeltäter reumütig, so wurde die Strafhöhe um Eindrittel herabgesetzt. Diese Milde des Gerichts galt allerdings nicht für „Ausländer“, welche die volle Gefängnis- oder Todesstrafe zu erwarten hatten. Alle Richter kamen aus dem Haager Land, meist waren sie Kleinadelige oder grössere Bauern. Die Verwaltung der Grafschaft war unbürokratisch und einfach. Oberster Beamter war der 'Kanzler', dann gab es Schatzmeister 'Kastner', einen Verwalter der Leibrechtshöfe 'Pfleger' und einen Verwalter der Wehrbauernhöfe 'Lehensprobst'. Neben diesen Regierungsbeamten gab es noch Ehrenamtliche, wie Wassergraf, Überreiter, Kellermeister, Obmann usw, deren Ehrensold mit der Steuer verrechnet wurde. Erst um 1534 wurden in der Grafschaft Haag regelmässige Steuern eingeführt. Wegen der einfachen Hofhaltung waren die Steuern gering. Sie betrugen nur die Hälfte oder Eindrittel des in Bayern üblichen Satzes. 1541 erhielt die Grafschaft Haag von Kaiser Karl V das Münzrecht und prägte eigenes Geld, das zu den wertvollsten deutschen Münzen gezählt werden kann.
Zu ihrer Finanzierung betrieb die Grafschaft Haag einige Gewerbebetriebe, so die gräfliche Brauerei Haag (Moy), die Ziegelei Lengmoos, den Wein- und Getreidehandel und zehn Tavernen im Haager Land. Ausserdem besass die Grafschaft noch vier Bergwerke in Tirol: den Kupferstollen Rörapichl bei Kitzbühel, ein Goldbergwerk und zwei Bleistollen bei Imst, die ausschliesslich für die Gewehrmunition gekauft wurden. Die Haager hatten Sitz und Stimmrecht im Reichstag und unterhielten ein eigenes Botschafttsgebäude in Nähe des Reichstages, der damals noch in Regensburg war. Vertreter beim Reichstag war der Graf, der Kanzler oder ein bestellter Jurist.
Der tüchtigste Haager Herrscher war Graf Sigmund (1445-1521), der den Schlossturm mit den Erkern ausstatten liess und Richter am Reichskammergericht war. Sein Enkel Graf Ladislaus (1505-1566) aber war der bekannteste und populärste Haager Graf. Als dieser 1566 söhnelos starb, fiel die Grafschaft als Reichslehen an das Reich zurück und wurde vom Kaiser neu verliehen, an die Wittelsbacher, die innerhalb von 30 Jahren die Steuer verdoppelten und bayerische Regeln einführten. Aus diesen und anderen Gründen kam es 1596 zu einem Aufstand gegen die bayerische Besatzungsmacht, an der sich 1500 Bauern beteiligten. Die Bauern wählten aus ihren Reihen einen Ausschuss von 8 Hauptführern und 52 Unterführern, schworen einen Eid bei Leib und Leben und forderten ihre alten Grafschafter Rechte. Die Rebellion wurde von bayerischen Truppen blutig niedergeschlagen. Die Wittelsbacher führten die neue Erwerbung weiter als „Freie, unseren Kurlanden nicht eingegliederte Reichsgrafschaft Haag“. Im Spanischen Erbfolgekrieg 1704-1714 wurde die Grafschaft den Wittelsbachern wieder entzogen und vom Kaiser dem Grafen Sinzendorff verliehen. Im Jahre 1777 wurde die Grafschaft dem Grafen Hadik unterstellt. Die Grafschaft Haag bestand bis zur Säkularisation am 31.12.1803 und wurde am 1.1.1804 in einen bayerischen Distrikt umgewandelt. Der letzte Haager Landrichter Johann Babtist von Lössl liess 1804 einen Gedenkstein in der Kirche von Kirchdorf setzen, auf dem der „Freien Reichsgrafschaft Haag“ gedacht wird.
Nach der Auflössung des Landgerichtes Haag 1804 kam es 1838 zu einer Neubildung des Landgerichtes, des späteren Amtsgerichtes. 1808 wurde Haag selbständige katholische Pfarrei. Die evangelische Pfarrgemeinde Haag geht ursprünglich auf das Jahr 1558 zurück. 1818 fand die erste Bürgermeister- und Ratswahl statt. Erster Bürgermeister wurde Philipp Wiesinger, Hauptmann im Haager Bataillon, das 1869 aufgelöst wurde. 1812 erhielt Haag einen eigenen Friedhof, 1830 wurde die Friedhofskirche gebaut, 1862 das Notariat Haag errichtet. In den Jahren 1831 und 1849 wüteten grosse Brände in Haag, bei dem 24 bezw. 60 Häuser niederbrannten. 1864 liess sich der Orden der Englischen fräulein in Haag nieder. Im selben Jahr wurde der Turn- und Sportverein gegründet. 1900 wurde die Bahnlinie Haag-Thann/Matzbach eröffnet. Sie bestand bis 1974. Mit der Gebietsreform von 1971 erhielt Haag die Gemeinde Winden und Teile der Gemeinden Rosenberg und Allmannsau. Am längsten überdauerte das „Zollamt Haag“ die Zeit, welches 1473 eingeführt und erst 1970 aufgelöst wurde, nach rund 500 Jahren.